Für den Leser ausgesucht

- 67 - September 1973 Für den Leser ausgesucht Auszug aus der Autobiographie des Reiseschriftstellers Karl May: "Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den Gelehrten höchstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen betrachtet. Solch eine himmlische Wahrheit steigt an den Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden. Sie wird überall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein, aber man glaubt ihr nicht, weil sie keinen gelehrten Ausweis besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, ohne aufgenommen zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder himmelan und kehrt zu dem zurück, von dem sie ausgegangen ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber lächelt mild und spricht: 'Weine nicht! Geh wieder zur Erde nieder und klopfe bei dem Einzigen an, dessen Haus du noch nicht fandest, beim Dichter! Bitte ihn, dich in das Gewand des Märchens zu kleiden und versuche dann dein Heil noch einmal!' - Sie gehorcht. Der Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie beginnt ihren Gang als Märchen nun von neuem, und wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man öffnet ihr die Türen und die Herzen. Man lauscht mit Andacht ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie zu bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber muß weiter, immer weiter, um zu erfüllen, was ihr aufgetragen ward. Doch geht sie nur als Märchen; als Wahrheit aber bleibt sie zurück. Und wenn man sie auch nicht sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus für alle Folgezeiten. Das ist das Märchen, aber nicht das Kindermärchen, sondern das wahre, wirkliche Märchen."

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