Das Buch der Geister

- 50 - du bist nicht so glücklich, wie du sein könntest, während du vor dir Wesen hast, die dieses ungetrübte Glück genießen. Willst du nicht mit ihnen tauschen? Gewiß, wirst du antworten, was muß ich tun? Und er wird sagen: Weniger als Nichts: wieder anfangen, was du schlecht gemacht hast, und ver- suchen, es besserzumachen! Würdest du dich besinnen und den Vorschlag annehmen, wäre es auch um den Preis mehrerer prüfungsvoller Existenzen? Bringen wir einen anderen Vergleich: Nehmen wir einen Menschen, der nicht gerade im äußersten Elend ist, doch bei zu geringen Einnahmen Mangel leidet, und es käme jemand und sagte zu ihm: Ich weiß einen ungeheuren Schatz. Er könnte dein werden, aber dafür mußt du eine Minute lang ange- strengt arbeiten. Auch der Trägste der Welt würde ohne Besinnen antworten: Ich will arbeiten, eine Stunde sogar und wenn es sein muß, einen ganzen Tag, wenn ich dafür mein Leben im Überfluß beschließen kann! Was ist nun schon die Dauer unseres Erdenlebens im Vergleich zur Ewigkeit? Noch weniger als eine Minute, als eine Sekunde! Wir hörten den Gedanken aussprechen, der allgütige Gott könne dem Menschen unmöglich die Wiederholung einer Reihe von Plagen und Trübsalen auferlegen; aber sollte man eine größere Güte darin entdecken, den Menschen einiger Augenblicke des Irrtums wegen zu ewigen Qualen zu verdammen, statt ihm die Mittel zu geben, seine Fehler wieder gutzumachen? Der Gedanke, daß unser Los durch einige Jahre der Prüfung für ewig entschieden sein soll, auch, wenn es nicht immer von uns abhing, auf Erden die Vollendung zu erreichen, hat etwas Erschütterndes, während die entgegenge- setzte Vorstellung besonders trostreich ist: sie läßt uns die Hoffnung. So sagen wir denn, ohne uns für oder gegen die Mehrzahl der Daseinsformen auszusprechen; wenn wir die Wahl hätten, so zöge kein Mensch ein Urteil ohne Berufung vor. Ein Philosoph sagte, wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man ihn erfinden, zum Nutzen des Menschengeschlechtes. Man könnte das Gleiche von der Mehrzahl der Daseinsformen behaupten, doch wie gesagt, Gott bittet uns nicht um Erlaubnis und fragt nicht nach unserer Meinung. Betrachten wir die Sache noch von einem anderen Gesichtspunkte aus, immer abgesehen von der Belehrung der Geister und einzig als philosophische Studie, und sehen wir, nach welcher Seite die Wahrscheinlichkeit sich neigt. Gibt es keine Reinkarnation, so gibt es nur eine einzige leibliche Existenz. Ist unser gegenwärtiges leibliches Dasein das einzige, so wird die Seele jedes Menschen bei seiner Geburt geschaffen, wenn man nicht eine frühere Existenz annehmen will. Dann müßte man sich freilich wieder fragen, was sie vor der Geburt gewesen ist und ob dieser Zustand nicht eine Existenz oder Daseinsform anderer Art voraussetzte. Ein Drittes gibt es hier nicht. Entweder existierte die Seele vor dem Leibe, oder sie existierte nicht. Wenn sie existierte, welches war dann ihr Zustand? Hatte sie ein Selbstbewußtsein oder nicht? Hatte sie keins, so wäre es nicht anders, als wenn sie gar nicht existierte. Besaß sie ihre Individualität, so schritt sie entweder vorwärts oder blieb stehen. In einem wie im anderen Falle fragt es sich: wie weit war sie, als sie in den Leib eintrat? Nimmt man mit dem Volksglauben an, sie werde mit dem Leibe geboren, oder sie habe vor ihrer Einverleibung nur negative Eigenschaften, so fragt es sich: 1. Warum zeigt die Seele so verschiedene und von der Erziehung oft so unabhängige Eigenschaf- ten? 2. Woher stammt die außergewöhnliche Befähigung gewisser ganz junger Kinder für gewisse Künste und Wissenschaften? 3. Woher stammen bei den einen die angeborenen Ideen oder Anschauungen, die bei anderen nicht vorkommen? 4. Woher stammen bei manchen Kindern die frühreifen Triebe zum Laster oder zur Tugend, jener angeborene Sinn für Würde oder Gemeinheit, der in keinem Verhältnis zu der Umge- bung, in der sie aufwachsen, steht? 5. Warum sind gewisse Menschen, abgesehen von ihrer Erziehung, weiter fortgeschritten als andere? 6. Warum gibt es wilde und zivilisiert Menschen? Welche Philosophie oder Theosophie vermag diese Rätsel zu lösen? Die Seelen sind bei ihrer Geburt

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