Der Stern von Bethlehem

- 2 - Nach landläufiger Vorstellung ist ja nichts so bitter wie der Tod und gibt es nichts Schrecklicheres als Sterben. Aber woher wissen wir das eigentlich? - Zwar gilt unwidersprochen, was Schuberts Wanderer klagt: "Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück", und dennoch leben weltweit viele Menschen, die schon einen Blick nach DRÜBEN taten. Und er gehörte seit Kurzem zu ihnen. - Nach einem unerträglichen Schmerz und der sich zunächst steigernden Todesangst erlebte er, analog der ihm bekannten Nahtodfälle aus eigener medizinischer Praxis, die Auflösung seiner eigenen Empfindungen, auch die des Zeit- und Gegenstanderlebens. Wie lange er in diesen Auf- und Erlösungszustand getaucht war, ist für ihn heute nicht mehr nachvollziehbar. Das Thema des Sterbens hat für ihn eine bestimmte Vorgeschichte. Im engeren Sinn begann sie auf einem Hauptverbandsplatz des Internationalen Roten Kreuzes im Kosovo, wo er als junger Arzt Dienst tat. Der Mann am Fenster erinnerte sich an einen Schwerverwundeten der tief bewußtlos war. Als das Ärzteteam seinen Bauch öffnete, bot sich ihnen ein chaotisches Bild. Nur noch einige Fetzen des Darmes waren erhalten, aber immerhin war die Hauptschlagader heil. Sofort wollte man den Bauch wieder notdürftig schließen, als dem jungen Arzt die Bemerkung - über die er sich sogleich ärgerte - entschlüpfte, es gäbe auch Wunder. Also operierten sie. - In Stunden wurden die wenigen erhaltenen Darmteile miteinander verbunden und ein künstlicher After angelegt. Mehrfach wollte das Team zwischenzeitlich aufstecken. Narkosemittel brauchten so gut wie keine gegeben zu werden, im Gegenteil - Herzkreislaufmittel und Bluttransfusionen. Ab und zu schien das Leben erloschen zu sein, und doch konnte man immer wieder Herzgeräusche zurückkehren hören. Was kaum einer des Ärzteteams geglaubt hatte, trat ein. Am nächsten Tag war der Verwundete wieder bei Bewußtsein, wenn auch noch nicht bleibend. Obwohl es dem zum Leben Zurückgerufenen ohne Zweifel möglich gewesen wäre, sprach er außer einigen Andeutungen tagelang keinen Satz mit seinen Rettern. Trat jemand von den Medizinern an sein Lager, drehte er langsam den Kopf zur anderen Seite und schaute die Wand an. Eine schwere Verstimmung schien ihn heimgesucht zu haben. Der Mann am Fenster erinnerte sich noch genau an den ersten Satz, denn erst nach Tagen fragte der Gerettete: "Warum habt ihr das getan?" Es dauerte weitere Tage bis man genauer erfuhr, was er meinte und was er erlebt hatte. Der Schwerverletzte war 28 Jahre alt, Sohn eines Bauern und sollte einmal den väterlichen Hof übernehmen. Krankheiten oder seelische Konflikte waren ihm bis zu seiner Verwundung fremd. Er entstammte einer völlig gesunden Familie, meinte immer, ihm könnte in diesem Krieg nicht viel passieren, und ging in jeden Kampf ohne Furcht. Der Bauchschuß traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er erkannte sofort, daß da "innen alles zerfetzt wurde". Die Schmerzen waren unerträglich. Aber schreien kam für ihn nicht in Frage. Während des Trommelfeuers war kein Sanitäter zu holen gewesen. Er registrierte genau, wie die Kräfte abnahmen und das Bewußtsein sich langsam einengte. Ihm sei völlig klar gewesen, daß er im Begriff war zu sterben. Er könne sich genau daran erinnern, daß in dem Augenblick, in dem er nichts mehr erkannte, auch der Schmerz plötzlich verschwand. Es war alles wie ein Weggleiten oder Wegschwimmen, ein unbeschreibliches Gefühl der Befreiung und Erlösung. Immer wieder stockte der Verwundete in seinem Bericht, holte Luft und entschuldigte sich, ihm fehlten die Worte, das richtig zu beschreiben, was er erlebt hatte. Aber über eines käme er immer noch nicht hinweg, daß man ihn wieder zum Leben zurückholte. Es war, als sei ihm das Paradies vorenthalten worden - so drückte er sich aus. Jedenfalls seien ihm die ersten Tage "wieder auf der Erde" furchtbar schwergefallen, und noch jetzt komme es ihm vor, als habe er einen schlechten Traum. Er könne sich nicht bedanken, sondern im Grunde uns allen nur Vorwürfe machen. Seine Haltung änderte sich auch in den nächsten Wochen kaum. Erst in den letzten Tagen vor seiner Genesung war er wenigstens zu einem angedeuteten Lächeln fähig. - Falsch wäre das Abtun seines Zustandes mit der Diagnose einer Depression oder gar einer zu Depressionen neigenden Persönlichkeit. Hierfür fehlten die wichtigsten Kriterien eindeutig. Dieser Fall beschäftigte den jungen Arzt so stark, daß er ihn Wochen später, zum weiteren Studium nach Deutschland zurückgekehrt, im engeren Kollegenkreis zur Sprache brachte. Einer seiner Kommilitonen war ihm bis dahin immer recht verschlossen, humorlos und ganz auf die Arbeit versessen, kurz, nicht gerade sympathisch erschienen. Er war auch Jahre älter als die anderen und relativ spät in das Medizinstudium eingetreten. Nachdem er lange zu dem Bericht geschwiegen hatte, ergriff dieser das

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