Der Stern von Bethlehem

- 3 - Wort, ihm seien ähnliche Fälle bekannt, und er hätte selbst ein entsprechendes Erlebnis hinter sich, das ihn völlig verwandelte und zum Medizinstudium brachte. Er schilderte kurz und fast trocken das Vorgefallene: Seine Freizeit gehörte dem Sport, vor allem dem Schwimmen, in welchem er an Jugendwettkämpfen teilnahm. Bis spät in den Herbst hinein legte er täglich mehrere Kilometer in der Oder zurück. Eines Tages erfaßte ihn mitten im Strom ein Krampf, der in den Beinen begann. Er wollte sich vor sich selbst keine Blöße geben und durchhalten. Als der Krampf auf den übrigen Körper überging war es zu spät, als daß er sich noch hätte ans Ufer retten können. Im vollen Bewußtsein, sterben zu müssen, sei er steif wie ein Brett untergegangen. Er könne sich noch wie durch einen Schleier erinnern, welche panische Angst ihn ergriff und wie ihn das Wasser abwürgte. Dann sei das plötzlich vorbei gewesen, und er meinte, das gleiche erlebt zu haben wie der beschriebene Kämpfer aus dem Kosovo. Worte gebe es dafür nicht. Auch er habe, nachdem er gerettet und wieder zum Leben gebracht wurde, zunächst kaum weiterleben können und wollen und alles unwirklich und deprimierend empfunden. Angeblich seien über eine Stunde Wiederbelebungsversuche gemacht worden, bis Herzschlag und Atmung zurückkehrten. Eine Zeitlang bestand noch eine Herzmuskelschwäche. Allmählich habe er sich wieder mit seinem Dasein abfinden müssen. Das ganze Erleben, das ihn noch heute untergründig beschäftigte, brachte ihn auf die Fragen nach Leben, Krankheit und Tod. Er machte das Abitur und studierte Medizin. Er kenne auch einen ehemaligen Sportler der ehemaligen DDR, der das Gleiche wie er erlebt habe. Sie beide seien sich einig darin, daß sie wieder ertrinken wollten, wenn sie sich die Todesart wählen könnten. Früher hätten sie, wenn sie an eine solche Möglichkeit dachten, große Angst vor dem Tode gehabt. Die sei heute völlig weg. Man könne zwar nicht von Selbstmordgedanken bei ihm sprechen, aber wie eine stille Sehnsucht begleite ihn die Rückerinnerung an das Sterbeerleben schon. Der Mann am Fenster erinnerte sich an diesen Kommilitonen genau und auch daran, daß er während seines eigenen Lungeninfarktes - noch unter Sauerstoff - wie aus Bruchstücken wieder erwacht war, deutlich ein Sträuben in ihm war, in das qualvolle Dasein zurückkehren zu sollen. Er wollte "wieder HINÜBER" - nicht wie in einem Traum, vielmehr war das Hier wie ein drückender Traum gegenüber einer wirklicheren, herrlichen WELT. - Sicher, rein organisch engte die weiterbestehende Atemnot ein, aber er war klar genug, seinen zweiten Infarkt bewußt zu erleben: Am Anfang stand erneut der dolchstoßartige Schmerz, und sein Erschrecken ist ihm deutlich in Erinnerung. Aber schnell trat ein eher lustvolles Steigerungsgefühl hinzu, Schmerz, Ersticken und Bewußtseinsschwund möchten so schnell und vehement wie möglich überhandnehmen, damit er endlich "HINÜBER" darf. Statt der Todesangst erlebte er eher eine Sucht. Diesmal wird es wohl klappen! Der Sog von der ANDEREN SEITE war ebenso stark wie der Drang, von hier wegzukommen. Ergänzend sei vermerkt, daß - über noch längere Zeit bestehende, mit Sicherheit nicht auf einen Herzinfarkt, sondern auf den Sauerstoffmangel zurückzuführende krankhafte Veränderungen der elektrischen Herzstromkurven (EKG) - der Tod nicht nur psychisch, sondern auch organisch nach ihm griff. Noch stärker als das erste Mal war die Enttäuschung, doch wieder im Hier und Jetzt landen zu müssen. Diese Empfindung ist untergründig geblieben; sie taucht nachts, in Träumen und in einsamen Meditationsstunden immer wieder stärker auf. Das hat nichts mit einer Depression oder gar mit Selbstmordideen zu tun. Im Gegenteil - scheint ihm das Sterben-"dürfen" in eine umgekehrte Richtung zu weisen, als könnte durch das aktive Handeln von hier aus das Angezogenwerden von DRÜBEN ausbleiben. Die ihn bis zu dieser Krankheit fast ständig begleitende Furcht vor dem Sterben ist völlig verschwunden. Nicht die Behandlung Sterbender und die gedankliche Beschäftigung mit dem Sterbeerleben brachten diese Wandlung, sondern die konkrete Selbsterfahrung! – Diese ließ auch vieles, was er bisher über Tod und Sterben gelesen hatte, in einem neuen Licht erscheinen.

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