Kapitel 7: Christus sein Leben und sein Werk

- 26 - Auch den Tag des allgemeinen Gerichtes weiß der Sohn nicht, sondern nur der Vater. Matthäus 24, 36: 'Von jenem Tage aber und von der Stunde hat niemand Kenntnis, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern ganz allein mein Vater.' Christus hatte von Gott auch nicht die Erlaubnis bekommen, die Marter des Kreuzestodes von sich abzuwenden. Darum wurde er im Garten Gethsemane nicht erhört, als er den Vater bat, diesen Leidenskelch an ihm vorübergehen zu lassen. Sowohl die Angehörigen Jesu als auch die Apostel und das gläubige Volk erkannten in ihm bloß den 'Propheten' – den 'Gottesgesandten'. Daß einer der 'Söhne Gottes' in ihm Mensch geworden war, wußte wohl seine Mutter aus der Verkündigung des Engels vor seiner Geburt. Aber sie wußte auch, daß er ein Mensch war mit menschlichen Schwächen. Sie war mit der Art seines öffentlichen Auftretens und seiner Lehrverkündigung nicht einverstanden. Sie wußte wohl, daß seine Glaubensüberzeugung von der Lehre der jüdischen Religion wesentlich abwich. Aber daß er das alles jetzt dem Volke öffentlich predigte, das drückte sie schwer. Sie hatte sich seine Aufgabe ganz anders gedacht. Und als sie hörte, daß Jesus in seinen Predigten so scharfe Worte gegen die geistlichen Führer des jüdischen Volkes gebrauchte und so manches in ihrer althergebrachten Religion in der Öffentlichkeit als unrichtig bezeichnete, da suchte sie das im Verein mit ihren anderen Söhnen zu verhindern. Sie wollte ihn zur Rückkehr in sein Elternhaus zwingen. Dadurch glaubte sie den Anstoß beseitigen zu können, den sein Vorgehen bei den Priestern, Schriftgelehrten und Pharisäern erregt hatte. Markus 3, 21: 'Als seine Angehörigen es hörten, machten sie sich auf, um sich seiner zu bemächtigen. Denn sie sagten, er sei von Sinnen gekommen.' Johannes 7, 5: 'Denn nicht einmal seine Brüder glaubten an ihn.' Daß seine Mutter und seine Brüder diese Einstellung gegenüber seinem öffentlichen Auftreten hatten, ist menschlich verständlich. Sie hielten die Lehre der jüdischen Kirche für die richtige. Darin waren sie von Jugend auf erzogen. Ihre Vorfahren hatten in dieser Religion gelebt und waren darin gestorben. Und nun sollte der eigene Sohn und Bruder öffentlich predigen, daß diese Religion in vielen Punkten im Irrtum sei. Das war für diese einfachen, unerfahrenen Leute unerträglich. Das, was ihre Geistlichkeit ihnen sagte, war für sie maßgebend. Doch war auch Menschenfurcht dabei im Spiele. Man zeigte mit Fingern auf sie als die Angehörigen eines Mannes, der die Religion seiner Väter angriff. Von dem Synagogenvorsteher ihres Ortes mußten sie oft Vorhaltungen deswegen über sich ergehen lassen. Auch eine geschäftliche Schädigung mußten sie befürchten. Besonders hart aber traf sie die Nachricht, daß die oberste Kirchenleitung Jesu in den Bann getan hätte und alle, die ihm anhingen und als den Messias bekannten, ebenfalls mit dem Banne bedrohten. Johannes 9, 22: 'Sie hatten schon abgemacht, daß der, welcher Jesus als den Messias bekenne, in den Bann getan würde.' Die jüdische Geistlichkeit warnte das Volk vor Jesus und seiner Lehre. Reichlichen Gebrauch machte sie von der Waffe der Verleumdung. Sie nannte ihn einen 'falschen Propheten', einen 'vom Teufel Besessenen', einen 'Volksaufwiegler', einen 'Weinsäufer' und 'sittlich Verkommenen', der sich mit Dirnen abgebe und bei den öffentlichen Sündern zu Gast sei. Kein Mittel war ihr zu schlecht, um denjenigen unschädlich zu machen, von dem sie ihren Einfluß auf das Volk bedroht sah. Sie konnte nicht dulden, daß die große Masse des Volkes etwas anderes als religiöse Wahrheit annahm, als was sie selbst vortrug. Ihr hatte sich das Volk zu fügen. Was sie nicht glaubte, durfte auch das Volk nicht glauben, oder der Fluch traf es. Johannes 7, 48: 'Ist denn irgendein Mitglied des Hohen Rates oder ein Pharisäer zum Glauben an ihn gekommen? Nein, nur dies gemeine Volk, das vom Gesetz nichts weiß – verflucht sei es!' • Es ist das alte Lied, das die Geistlichkeit a l l e r Religionen stets anzustimmen pflegt, wenn sie ihren Einfluß auf das Volk durch irgendeinen Wahrheitskünder bedroht sieht.

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