Kapitel 8-9: Die Lehre Christi und das heutige Christentum

- 38 - Ihr möget noch sooft beteuern, das sei ein unbegreifliches Geheimnis und möget es das Geheimnis des Glaubens nennen, das ändert an der Unwahrheit dieser Lehre nichts. Mit dem Worte 'Geheimnis' kann man jeden menschlichen Wahn verdecken. Worte findet man immer, auch wenn man sich unter den Worten nichts Vernünftiges denken kann. Über eins muß ich mich bei dieser Lehre besonders wundern: Ihr leset doch die Bibel. Ist euch dabei denn nicht aufgefallen, daß in dem ganzen Neuen Testament auch nicht die geringste Spur eurer widersinnigen Lehre enthalten ist? Wenn bei dem Abendmahl des Herrn Brot und Wein in den wahrhaftigen Christus verwandelt worden wäre, dann würden die Apostel nicht müde geworden sein, auf dieses unbegreifliche Geschehen immer wieder hinzuweisen. Sowohl die Evangelien hätten über dieses Wunder aller Wunder ausführlich berichtet, als auch die Apostel hätten in ihren Briefen die ersten Christen immer wieder auf dieses Gedächtnismahl hinweisen müssen. Aber nirgends wird etwas davon erwähnt. Der Apostel Johannes, der beim Abendmahl an der Seite seines Meisters ruhte und als erster von ihm einen Bissen jenes gesegneten Brotes empfing, erzählt in seinem Evangelium überhaupt nichts von der Darreichung des Brotes und Weines durch Christus. Er erzählt die Fußwaschung. Er erzählt den Verrat des Judas. Und er sollte über dieses unbegreiflichste und gewaltigste Geschehen im Leben Jesu geschwiegen haben? Die Apostel erwähnen in ihren Briefen nichts vom Abendmahl. Die Apostelgeschichte teilt bloß mit, daß die ersten Christen an der Lehre der Apostel, an der Gemeinschaft, am Brotbrechen und am Gebet festhielten. Also hier wird die Feier des Abendmahls als ein 'Brotbrechen' erwähnt und nicht als das, was ihr heute daraus gemacht habt. Sie brachen das Brot als Sinnbild des Todes Christi und der Liebe, die sie in der Gemeinschaft miteinander und mit Christus bestätigten. Es war Brot, was sie brachen und aßen. Aber bei dem Genuß dieses Brotes waren sie mit ihren Gedanken und Gebeten bei dem, der ihnen verheißen hatte: 'Wo auch nur zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.' Der Genuß des Brotes und des Weines war für sie ein heiliges Sinnbild ihrer geistigen Vereinigung mit ihrem Erlöser. Der Apostel Paulus, der eine große Anzahl von Briefen an die Gemeinden geschrieben hat, ist der einzige, der in seinem ersten Brief an die Korinther das Abendmahl erwähnt. Aber auch er würde darüber nichts gesagt haben, wenn er nicht durch die äußeren Umstände dazu gezwungen gewesen wäre. Man hat ihm nämlich mitgeteilt, daß es in der Korinthischen Gemeinde bei der Abendmahlsfeier sehr schlimm zuging. Die ersten Christen gestalteten die Abendmahlsfeier zu einer vollständigen Mahlzeit, wie dies ja auch bei dem Abendmahl Christi in Jerusalem der Fall war. Denn bevor Christus den Jüngern Brot und Wein zum Gedächtnis reichte, hatte er mit ihnen das Opferlamm nebst allem Dazugehörigen gegessen und Wein dazu getrunken. So aßen nun auch die ersten Christen bei ihren Abendmahlsfeiern zuerst Fleischgerichte mit den verschiedensten Zutaten. Auch sie tranken dazu Wein. Und erst zum Schluß dieser Mahlzeit brachen sie Brot und tranken aus einem gemeinschaftlichen Kelch Wein zum Gedächtnis Christi. Auch diese Christen waren schwache Menschen mit denselben Fehlern wie ihr. Das zeigte sich leider auch bei der A b e n d m a h l s f e i e r i n K o r i n t h. Sie wurde in Privathäusern abgehalten. Nun war der Eigentümer des Hauses, in dem die Feier stattfand, nicht in der Lage, die ganze Mahlzeit für alle Teilnehmer zu stellen. Denn die ersten Christen waren meist arme Leute. Darum mußte sich jeder sein Essen und seinen Wein für die gewöhnliche Mahlzeit, die der Abendmahlsfeier vorausging, selbst mitbringen. Nun kam es vor, daß die Armen nur ein kärgliches Essen bei sich hatten oder überhaupt nichts aßen, sondern sich bloß am Schluß an der eigentlichen Abendmahlsfeier beteiligten. Dabei mußten sie oft zusehen, wie die Bessergestellten ihr reichliches Mahl verzehrten und Wein dazu tranken und bisweilen im Weingenuß die Grenzen des Erlaubten überschritten und sich betranken. Solche Zustände konnten natürlich nicht geduldet werden; nicht bloß deswegen, weil die dabeisitzenden Armen Anstoß daran nahmen, sondern vor allem, weil sie mit dem Geist der Abendmahlsfeier unvereinbar waren.

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