Kapitel 8-9: Die Lehre Christi und das heutige Christentum

- 54 - 8. 16 Gehorsam gegen menschliche Obere als Vollkommenheitsideale Was von dem Gelübde der vollständigen Armut und der steten Keuschheit als Ehelosigkeit gilt, das gilt in gleichem Maße von dem G e l ü b d e d e s v o l l k o mm e n e n G e h o r s a m s gegen menschliche Obere. Auch dies ist gegen Gottes Willen und bloß eine Erfindung menschlicher Herrschsucht. • Gott hat jedem Geist bei der Schöpfung als höchste Gabe d i e W i l l e n s f r e i h e i t geschenkt. Diese Freiheit der persönlichen Entscheidung bei allem, was er tut oder unterläßt, beschränkt Gott bei niemand. Es ist auch nicht sein Wille, daß sie von menschlicher Seite beschränkt wird. Denn jeder Mensch ist für das, was er tut, in jedem Augenblick seines Lebens persönlich verantwortlich. Die Verantwortung kann ihm niemand abnehmen. Er kann sich Gott gegenüber niemals darauf berufen, daß er seinen Willen und die persönliche Entscheidung einem anderen Willen untergeordnet habe. • Sobald daher ein Mensch zur Reife der Vernunft gelangt ist, darf er niemals seinen Willen in blindem Gehorsam dem Willen eines anderen Menschen unterstellen, weder einer weltlichen noch einer geistlichen Obrigkeit. Blinden Gehorsam soll man bloß Gott gegenüber leisten. Wenn es in der Bibel heißt: 'Gehorsam ist besser als Opfer', so beziehen sich diese Worte nur auf den Gehorsam gegenüber Gott, aber niemals auf den Gehorsam gegenüber Menschen. Zwar berufen sich die menschlichen Oberen, besonders die geistlichen, so gern auf dieses Bibelwort, um blinden Gehorsam von ihren Untergebenen zu erlangen. Auch hat man die falsche Lehre aufgestellt, daß ein blinder Gehorsam gegenüber einem geistlichen Oberen den Gehorchenden von jeder persönlichen Verantwortung in den Dingen befreie, die er im Gehorsam vollführe. Nur eine Sünde dürfe er nicht im Gehorsam begehen. Das ist ein großer Irrtum! • Denn der Mensch ist nicht bloß für das Böse, das er tut, persönlich verantwortlich, sondern ebensosehr für das, was er an Gutem u n t e r l ä ß t . Ja, die Unterlassung des Guten kann oft eine v i e l g r ö ß e r e S ü n d e sein, als das Begehen einer sündhaften Tat. Wenn ein geistlicher Oberer einem Untergebenen befiehlt, einen Diebstahl zu begehen, so darf nach eurer Lehre der Untergebene nicht gehorchen. Verbietet er ihm jedoch z. B. einem Mitmenschen, dem der Untergebene Hilfe bringen könnte, zu helfen, so müßte der Untergebene die Hilfe unterlassen. Und doch wäre diese Unterlassung in den Augen Gottes vielleicht eine viel größere Sünde als der Diebstahl. Der Untergebene könnte sich im letzteren Falle Gott gegenüber nicht darauf berufen, daß er wegen der Gehorsamsverpflichtung gegen seinen Oberen das Gute nicht hätte tun können, zu dem ihn das eigene Gewissen drängte. Er muß vielmehr unter allen Umständen seinem Gewissen Folge leisten. Das Gewissen eines anderen kann nie das eigene Gewissen ersetzen. Jedem Menschen gibt Gott seine besondere Aufgabe. Diese muß er erfüllen und darf sich nicht durch menschliche Befehle und Satzungen daran hindern lassen. Daraus folgt, daß niemand seinen Willen dem Willen eines anderen durch ein Gelübde des Gehorsams unterstellen darf. • Das Gelübde des Gehorsams, das eure Priester und Ordensleute ablegen, ist daher w i d e r G o t t e s W i l l e n . • Auch den weltlichen Machthabern gegenüber kommt bloß ein Gehorsam in Frage, der sich auf diejenigen weltlichen Gesetze erstreckt, die mit dem Gesetze Gottes n i c h t i n W i d e r - s p r u c h s t e h e n .

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