Der Delpasse-Effekt

- 12 - 1.8 Die Theorie von den Gedächtnismolekülen In den fünfziger Jahren überraschten die amerikanischen Wissenschaftler, James McConnell und Robert Thompson, die Welt mit einem sensationellen Versuch. Sie hatten Versuche mit Strudelwürmern unternommen, gliedmaßenlosen Tieren mit abgeplattetem Körper, die in Abwässern leben. Strudel- oder Plattwürmer gehören zum Stamm der niederen Würmer. Sie besitzen keine Blutgefäße, doch bereits ein einfaches Nervensystem. McConnell und Thompson wollten wissen, ob Tiere so primitiver Bauart in der Lage seien, etwas zu lernen. Sie beleuchteten ihre Strudelwürmer mit einer hellen Lampe, was diese normalerweise dazu veranlaßt, sich auszustrecken. Unmittelbar auf das Lichtsignal folgend erhielten die Tiere einen leichten elektrischen Schlag, der eine heftige Kontraktion des Körpers bewirkte. Nach mehr als hundert solcher Erfahrungen hatte jeder Strudelwurm gelernt, daß Licht zugleich Schmerz bedeutet. Er zog sich bereits zusammen, wenn der Lichtstrahl ihn traf, also b e v o r der elektrische Schlag ausgelöst wurde. • Die Wissenschaftler schnitten darauf jeden Wurm in zwei Teile. Jede dieser Hälften regenerierte sich zu einem vollständigen neuen Wurm. Nun wäre zu erwarten gewesen, daß der Wurm, der aus dem Kopfteil nachwuchs, die Lektion behalten hätte. Erstaunlicherweise stellte sich jedoch heraus, daß sowohl Kopfteil als auch Schwanzteil das Erlernte nicht vergessen hatte. Die Versuche von McConnell und Thompson blieben zunächst umstritten, denn man konnte sie nicht in allen Punkten nachvollziehen. Übrig blieb die Erkenntnis, daß das Gehirn wohl nicht unbedingt und nicht allein der Sitz des Gedächtnisses sein muß. Weitere Versuchsanordnungen mit Strudelwürmern wurden erdacht und schließlich machte man eine sehr seltsame Entdeckung: • Schnitt man die trainierten Strudelwürmer in Stücke und verfütterte sie an ihre Artgenossen, so lernten diese den Licht-Schock-Versuch in wesentlich kürzerer Zeit als untrainierte Würmer. Auf geheimnisvolle Weise war das Wissen ihrer aufgefressenen Vorgänger in ihren Besitz gelangt. Bei den Plattwurmversuchen McConnells hatte es sich gezeigt, daß die Tiere, die aus halbierten Würmern nachwuchsen, ihr ursprüngliches Gedächtnis behalten hatten. Daraus ließ sich der Schluß ziehen, daß Gedächtnis nicht unbedingt an das Gehirn gebunden sein muß. Es kann auch in anderen Körperzellen beheimatet sein. Dieses Ergebnis war sensationell! Die New York Times titelte daraufhin: "Verspeisen Sie Ihren Professor!" Bis in die 70er Jahre war die Theorie der Großmutterzelle aktuell. Danach sollte eine Erinnerung, zum Beispiel an die eigene Großmutter, in einer einzigen Nervenzelle gespeichert sein. Eine einfache Überlegung widerlegte schließlich diese Idee: Da im Gehirn laufend Nervenzellen absterben, würde es zu einem dauernden Auslöschen von einzelnen Gedächtnisinhalten kommen. Auch die Erinnerung an die Großmutter würde irgendwann einfach ausgeknipst – was offensichtlich nicht der Realität entspricht. Die Theorie von den Gedächtnismolekülen konnte sich nicht halten. McConnells aufsehenerregender Versuch ging a l s I r r t u m i n die Wissenschaftsgeschichte ein.

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