Der Delpasse-Effekt

- 14 - 1.10 Wann ist der Mensch tot? Im Juli 1924 gelang dem deutschen Neurophysiologen Hans Berger ein Experiment, das bahnbrechend für die Erforschung des Gehirns wurde. Berger hatte zwei Elektroden an der Kopfhaut eines geisteskranken Patienten befestigt und diese mit einem Meßinstrument, das schwache elektrische Ströme anzeigen kann, verbunden. Dabei wurden weder die Schädeldecke noch die Kopfhaut des Kranken verletzt – eine direkte Verbindung zum Gehirn kam also nicht zustande. Dennoch begann der Zeiger des Meßinstrumentes auszuschlagen, sobald die Elektroden den Kopf berührten. Hans Berger hatte den Gehirnstrom entdeckt. Im Jahre 1929 veröffentlichte Berger das erste Bild, das von der Identität eines Menschen erstellt wurde: Ein Elektro-Enzephalogramm (EEG) Als man sich noch mit Gedächtnismolekülen und Erregungsimpulsen befaßte, hatte man stets von einem Gedächtnismolekül und einem Impuls, dem andere, einzelne Impulse folgten, gesprochen. Das war natürlich nur eine vereinfachte Betrachtungsweise. In Wirklichkeit könnte das Gehirn herzlich wenig Arbeit leisten, wenn es immer nur einen Impuls nach dem anderen (seriell) losschicken wollte. Heute weiß man, das gesamte Gehirn muß die gleiche Arbeit millionenfach zur gleichen Zeit (parallel) in ungezählten Zellen leisten und wird dabei fortlaufend von Erregungsmustern durchpulst. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Gehirnstrom und Elektro-Enzephalogramm Begriffe, die in die neurologischen Kliniken gehörten und für die sich die Öffentlichkeit recht wenig interessierte. Das änderte sich erst, als Dr. Christiaan Barnard im Dezember 1967 das erste menschliche Herz verpflanzte. Damals nämlich mußte die öffentliche Meinung sich erstmals mit der Frage befassen, wann ein Mensch denn eigentlich wirklich tot sei. Das Herz eines Leichnams ist unbrauchbar für eine Transplantation, weil dessen Blutzirkulation zum Stillstand gekommen ist. Andererseits kann man ein Spenderherz nicht aus einem lebenden Körper reißen. Aus diesem Dilemma helfen Geräte zur künstlichen Beatmung des Spenders oder – im Extremfall – die Herz-Lungen-Maschine. Diese Geräte können den Abgrund zwischen "nicht mehr lebendig" und "noch nicht tot" überbrücken. Das Blut des Herzspenders, für dessen eigenes Leben es keine Rettung mehr gibt, wird maschinell mit Sauerstoff versorgt. Der Herzempfänger erhält ein lebendfrisches Organ. Es stellt sich die Frage: • Ist ein Mensch, dessen Gewebe sich nur deshalb nicht auflöst, weil er an eine Maschine angeschlossen ist, schon tot oder ist er noch lebendig? • Wann ist ein Mensch so tot, daß die Maschine abgeschaltet werden darf? Oder darf man sie überhaupt nicht abschalten, weil das ein Mord an einem hilflosen Organismus wäre? Immer deutlicher zeigte sich die Notwendigkeit, eine neue Formulierung für das zu finden, was Tod bedeutet. Ein exakter Zeitpunkt mußte festgelegt werden, zu dem ein Mensch so tot war, daß man ihm Organe entnehmen durfte. Der Gehirnstrom schien am ehesten geeignet, dieses schwierige Problem zu lösen. Erst dann, wenn das EEG-Gerät über längere Zeit hinweg keine Kurven mehr, sondern nur noch Null-Linien aufzeichnet, kann mit Sicherheit angenommen werden, daß der Gehirnstrom endgültig erloschen ist. Doch das EEG gilt nur als Indikator für die Hirnrinden-, nicht aber für die Hirnstammfunktion. Null-Linien sind also für sich allein nur ein unsicheres Anzeichen des Hirntodes. In der Praxis ist das EEG durch Angiogramme sowie Klinische- und Laboratoriumsuntersuchungen zu ergänzen, wenn es darum geht, den Eintritt des Hirntodes einwandfrei festzustellen. Doch kann man das wirklich? Der im Jahre 1999 verstorbene Prof. Paul Glees sagte, daß die Hirnströme eine feste Beziehung zu der gedanklichen Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen hätten. Bei der Verarbeitung eines Gedächtnisinhaltes zu einem Gedanken, scheinen also die langsameren Gehirnströme eine Rolle zu spielen. Man kann also vereinfachend sagen, daß unser Bewußtsein nur durch den Gehirnstrom abgerufen

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