Das Jenseits in uns

- 8 - 4.0 Glücksel igkei t im rechten Temporal lappen des Großhi rns Wichtiger ist vermutlich die Beteiligung körpereigener Halluzinogene, denn synthetisch hergestellte Halluzinogene wie LSD können Elemente von Nah-Todeserfahrungen hervorrufen. So hat man im Gehirn des Menschen kürzlich einen Cannabis-Rezeptor und den dazugehörigen Botenstoff entdeckt. Dessen Name Anandamid bedeutet bezeichnenderweise soviel wie "innere Glückseligkeit". Welche Hirnareale bei Nah-Todeserlebnissen beteiligt sind, läßt sich ebenfalls nicht genau festlegen. Vermutlich spielt das temporo-limbische System eine wichtige Rolle, welches das Groß-, Zwischen- und Mittelhirn durchzieht. Dieses System ist jedoch auch an anderen integrativen Leistungen wie Gedächtnis, Lernen, Sprache und Selbstgefühl beteiligt. Stimuliert man den rechten Temporallappen des Großhirns elektrisch, so können manchmal Elemente der Nah-Todeserfahrung wie Lebensfilm-Bruchstücke, Zeitveränderungen, Glücksgefühle oder Außerkörperlichkeitserlebnisse beobachtet werden. Wie unter anderem EEG-Messungen vermuten lassen, scheint auch der frontale Kortex bei den Erlebnissen beteiligt zu sein, also jener Großhirn-Bereich, der für das Schlußfolgern, Bewerten und Verknüpfen von Erfahrungen verantwortlich gemacht wird. Jedoch sind dabei offenbar - wie auch bei anderen veränderten Bewußtseinszuständen - nur ganz bestimmte Areale des Kortex aktiviert. Andere Regionen, die im normalen Wachbewußtsein aktiv sind, scheinen hingegen gehemmt zu sein. Sind Nah-Todeserfahrungen demnach "nur" ein bestimmter Zustand des Gehirns ohne Gegenstück in der "Wirklichkeit", also eben doch Halluzinationen? Wenn man aus den spärlichen Kenntnissen über die Neurophysiologie solcher Bewußtseinszustände diesen Schluß ziehen wollte, dann müßte man die ganze Welt zur Halluzination erklären. Denn für die Physik existieren weder Farben noch Formen oder feste Gegenstände. Diese gibt es nur als Interpretationen von Materieteilchen und Energiefeldern in unseren Gehirnen so wie es Haß, Schmerzen, Liebe oder eben Nah-Todeserfahrungen "nur" in unseren Gehirnen gibt. Die Neurophysiologie kann diese Erfahrungen also nicht reduzierend hinwegerklären. Wir wissen gar nicht, welche dieser beiden Seiten von Wirklichkeit - auf der einen Seite das Erleben, auf der anderen die Hirnvorgänge - primär ist und die andere erklärt. Vielleicht erklärt keine der beiden Seiten die andere und beide gehören untrennbar zusammen. Insgesamt scheinen bei der NahTodeserfahrung ganz bestimmte Hirn-Strukturen selektiv erregt zu werden. Dieses Erfahrungsmuster scheint im Gehirn biologisch angelegt zu sein, so daß es "bei Bedarf" aktiviert werden kann. Der Psychiater Stanislav Grof konnte beispielsweise durch Halluzinogene Elemente die Nah-Todeserfahrung bei unheilbar Krebskranken auslösen und ihnen so (religiöse) Zuversicht geben und die Angst vor dem Tod nehmen, ihre Stimmung aufhellen und Schmerzen reduzieren. Dementsprechend gelten bewußtseinsverändernde Techniken und Substanzen in den meisten Kulturen als Zugang zu religiösen (Jenseits-)Erfahrungen. Die Nah-Todeserfahrung stellt deren Prototyp dar und zeigt sogar deren biologische Basis auf. Alle religiösen Erfahrungen und die Religiosität des Menschen überhaupt scheinen auf einer solchen neurophysiologischen Grundstruktur zu beruhen. NahTodeserlebnisse sind deshalb so heilsam, weil sie diese innere Religiosität freilegen, die bei uns allgemein verdrängt wird. Marx (Religion als Opium für das Volk), Freud (Religion als Neurose) und Drewermann (Religion muß an die gängige Rationalität der Psychoanalyse angepaßt werden) haben sich meiner Meinung nach geirrt. Religiöses Erleben beruht vielmehr auf einer biologisch angelegten Matrix, die jenseits der psychoanalytisch erreichbaren Schichten im Unterbewußtsein liegt und in ihrer heilsamen Potenz jede Psychoanalyse übertreffen kann. Die gängige Rationalität, an die sich viele Theologen krampfhaft anzupassen versuchen, erweist sich demnach als Reduktion der Wirklichkeit.

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