Das Fortleben nach dem Tode

- 49 - Ich hatte bis dahin nicht gewußt, daß er ein guter Pianist war. Er sah sich die Noten kurz an und spielte sie dann ohne sonderliche Mühe. Es klang sehr interessant, und als er geendet hatte, herrschte völlige Stille. Ich hatte Angst, daß er nun sagen würde, er halte nicht viel davon. Dann wandte er sich ganz, ganz langsam um und sagte: 'Mrs. Brown, ich glaube, da ist wirklich was dran.' Da fiel mir ein Stein vom Herzen! Gott sei Dank, dachte ich, es ist alles in Ordnung. Ich setzte mich wieder, um den Rest des Musikstückes von Liszt aufzunehmen, der danebenstand und sich amüsierte, weil ich an seinem neuen Musikstück gezweifelt hatte. Im Geiste sagte ich zu Liszt: 'Warum diktieren Sie mir nicht etwas, das mehr ins Ohr geht?' Er grinste nur und meinte: 'Du wirst sehen, daß dieses Musikstück die Herren von der BBC viel mehr beeindrucken wird als eine Komposition von der Art der Ungarischen Rhapsodie oder eines brillanten Konzertstückes.' Das Musikstück, das Liszt 'Grübelei' nannte, war bald beendet, und Geoffrey Skelton nahm es mit, um es dem bekannten Musikwissenschaftler und Lisztexperten Humphrey Searle zu zeigen. Dieser war sehr beeindruckt, wie Liszt es vorausgesagt hatte. Liszt war so schlau gewesen, einen musikalischen Hinweis in das Stück einzubauen, der hervorheben sollte, daß es sich wirklich um ein Werk von Liszt handelte. Humphrey Searle meinte, es sähe zwar keinem existierenden Stück von Liszt ähnlich, hätte aber durchaus in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens geschrieben worden sein können." Diese Auffassung wird durch einen Brief von Humphrey Searle vom 2. Sept. 1962 belegt, in dem er ausführt (Nach Text auf der Hülle der Philips-Schallplatte 6500049): "Es handelt sich hier um ein sehr aufschlußreiches Stück, obwohl es nicht genau einer Komposition Liszts gleicht, die ich kenne, - abgesehen von einem Takt, auf den ich später noch zu sprechen komme - ist es ein Stück, welches Liszt sehr gut geschrieben haben könnte, vor allem während der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens, als er unablässig in neuen Richtungen experimentierte. Eine auffallende Tatsache ist, daß über weite Strecken die Taktarten 5/4 und 3/2 einander gegenübergestellt sind: Heute wissen wir natürlich, daß Pierre Boulez sehr gut einen Fünfertakt mit der einen Hand und einen Dreiertakt mit der anderen dirigieren kann, aber diese Art von Rhythmus war im 19. Jahrhundert nicht gebräuchlich. Andererseits schrieb Liszt Abschnitte im 7/4-Takt im ersten Satz der Dante-Sinfonie und sogar solche im 7/8-Takt in der Originalfassung der Faustsinfonie; sicherlich war er Experimenten dieser Art nicht abgeneigt. Die Harmonik des vorliegenden Stücks, obwohl im ganzen sehr chromatisch angelegt, ist weitgehend diejenige des 19. Jahrhunderts - also ebenfalls sehr typisch für Liszt - ähnliches gilt auch für den formalen Aufbau der Komposition. 'Grübelei' kann man mit 'Meditation' und 'Nachdenklichkeit' umschreiben, und die vorliegende Musik weist eindeutig diesen Charakter auf. Die Vortragsbezeichnungen in den Noten sind in der Hauptsache in italienisch abgefaßt, entsprechend der gewöhnlichen Praxis von Liszt, obwohl sich auch eine französische Anweisung findet, 'avec tendresse', was wiederum bezeichnend für Liszt ist. Wenn wir uns nun den Einzelheiten zuwenden, so fällt ein Takt besonders auf, der einer der Kadenzen aus dem dritten Liebestraum, dem Liebestraum par excellence, sehr ähnlich sieht. In 'Grübelei steht:

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