Ist unser Schicksal festgelegt?

- 8- Die Freiheit besteht jetzt darin, daß das Ich nur nach den eigenen Informationen und nach eigener Informationsverarbeitung eine Entscheidung zum Wollen und Handeln trifft und nicht durch von außen kommende Einflüsse unter Umgehung der eigenen Informationsverarbeitung und unter Umgehung der eigenen Bewertung gesteuert und im Sinne eines äußeren Zwanges zu Handlungen veranlaßt wird. • Bei dieser Betrachtungsweise besteht jetzt kein Gegensatz mehr zwischen kausaler Gesetzmäßigkeit und der Freiheit zum Wollen und Entscheiden. Hier ist die kausale Gesetzmäßigkeit die unabdingbare Voraussetzung zur Willensfreiheit, denn ohne sie gäbe es keine Gedanken, keine Entscheidung, keinen Willen, ja nicht einmal Leben und damit auch keine Freiheit. Nach den vorgetragenen Überlegungen und Definitionen müssen wir eine Willensfreiheit im Sinne der Informationsverarbeitung auch den Tieren und Pflanzen zusprechen. Auch diese Lebewesen erfahren ständig Reize, d. h. nehmen Informationen auf, verarbeiten sie in Entscheidungsprozessen und setzen sie anschließend in Handlungen um, die ihr Fortleben und ihre Fortpflanzung ermöglichen und sichern sollen. • Willensfreiheit ist in diesem Sinne eine Eigenschaft des Lebens überhaupt. In diesem Zusammenhang sei an August Bier8 erinnert, der von den zwei kennzeichnenden Merkmalen des Lebens spricht: "Reizbarkeit und zielstrebige Handlung. Nur das Lebendige ist reizbar. Was nicht reizbar ist, hat nie gelebt oder ist abgestorben."9 Manchem Leser wird bei diesen Gedankengängen unwohl werden. Viele Menschen meinen ja aus Gründen des Geltungsbewußtseins, daß zwischen Pflanzen und Tier einerseits und dem Menschen andererseits ein prinzipieller Unterschied bestehen müsse, wobei diese geheimnisvolle Willensfreiheit einen besonders wichtigen Punkt darstellt. Willensfreiheit wird eben Tieren oder gar Pflanzen nicht zugestanden. Diese wird als menschliches Privileg angesehen. Aber man sollte sich hüten, aus solchen überkommenen Anschauungen ein Dogma zu machen. Selbstverständlich besteht zwischen Menschen und anderen Lebewesen ein Unterschied; aber er ist nicht prinzipieller sondern gradueller Art. Selbstverständlich steht die Willensfreiheit bei Pflanzen und Tieren auf einer anderen Stufe als bei den Menschen, wie sie ja auch bei den einzelnen Individuen der Menschen sehr unterschiedlich sein kann. Die Unterschiede bestehen in Art und Umfang der Informationsverarbeitung, die einer Willensentscheidung vorangeht. Die Anzahl und die Verknüpfungen der logischen Operationen vor einer Willensentscheidung sind bei Menschen sehr viel größer als bei anderen Lebewesen. Während bei der Willensentscheidung einer Pflanze, beispielsweise zum Wachstum, vielleicht nur drei verschiedene Informationen gewichtet und ausgewertet werden, etwa Temperatur, Lichtverhältnisse und Feuchtigkeit, können die erforderlichen ausgewerteten und gewichteten Informationen bei einer tierischen und menschlichen Willensentscheidung sehr viel größer sein. Insofern können wir den Tieren und erst recht den Menschen eine sehr viel größere Willensfreiheit zusprechen als den Pflanzen. Übrigens besteht ein beachtenswerter Unterschied zwischen Pflanze und Tier darin, daß Tiere lernen können, d. h. sich aus positiven und negativen Erfahrungen bei ihren Handlungen einen neuen Informationsvorrat schaffen und speichern können, der bei neuen Willensentscheidungen sinnvoll mitverwendet wird. Die Pflanze kann das nicht, sondern handelt und reagiert nur nach ererbten (d.h. im Sinne der Technik "fest verdrahteten") Programmen.10 8 Prof. A. Bier, 1861 - 1949, Chirurg in Berlin von 1907 - 1932. Deutscher Nationalpreis für Wissenschaft 1937. 9 A. Bier, Die Seele, J. F. Lehmanns Verlag, München 1940, S.97. 10 Wenn dem Verfasser möglicherweise seltsame Sonderfälle unbekannt sein sollten, so sind sie hier nicht von entscheidender Bedeutung.

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