Das Buch der Geister

- 150 - etwas Gutes, will er auch, daß es sein Verdienst sei und hütet sich, etwa seinen Organen dafür zu danken. Das Verhängnis, wie man es als Wort immer versteht, setzt voraus, daß alle Ereignisse des Lebens, gleich ob wichtig oder unwichtig, im voraus und auf unwiderrufliche Weise festgelegt seien. Wäre dies die Weltordnung, so wäre der Mensch eine willenlose Maschine. Eine solche Lehre würde, wenn sie wahr wäre, die Aufhebung jeder sittlichen Freiheit sein. Für den Menschen gäbe es keine Verant- wortlichkeit mehr und folglich weder Gutes noch Böses. Eine solche Ordnung der Dinge wäre außer- dem die Verneinung des Gesetzes vom Fortschritt, denn der Mensch, vom Schicksal alles erwartend, täte nichts mehr zur Verbesserung seiner Lage, da er ja damit doch nichts ausrichtete. Demnach ist das Verhängnis doch kein leeres Wort. Es besteht in der Stellung, welche der Mensch auf Erden einnimmt, und in den Aufgaben, die für ihn daraus erwachsen. Beides ist die Folge der Daseins- form, die sich sein Geist einst wählte, als Prüfung, als Sühne oder als Sendung. Die einzelnen Ereignisse richten sich nach den Umständen, die er selbst durch seine Handlungen veranlaßt und auf welche die Geister durch Gedanken, die sie ihm eingeben, Einfluß üben können. Das Verhängnis liegt also in den sich einstellenden Ereignissen, da sie die Folge der vom Geiste gewählten Daseinsform sind. Es kann nicht im Ergebnis jener Ereignisse liegen, weil es in der Macht des Menschen liegt, durch seine Klugheit ihren Lauf zu verändern. Es liegt nie in den Handlungen des sittlichen Lebens. Beim Tode ist der Mensch dem unerbittlichen Gesetz des Verhängnisses absolut unterworfen, er kann weder dem Beschluß, der dem Leben das Ziel setzt, noch der Todesart, die sein Leben beenden soll, entfliehen. Nach der gewöhnlichen Annahme würde der Mensch alle Triebe aus sich selbst schöpfen, diese gingen teils aus seiner leiblichen Organisation, für die er nicht verantwortlich sein kann, teils aus seiner eigenen Natur hervor, für die es Entschuldigungen gäbe. Die spiritistische Lehre ist viel sittlicher: Sie räumt dem Menschen den freien Willen in vollem Maße ein. Wenn sie ihm sagt, daß sein Böses aus einer fremden bösen Eingebung folge, so überträgt sie ihm die ganze Verantwortlichkeit dafür, indem sie ihm die Macht des Widerstandes zuerkennt, was viel leichter ist, als gegen seine eigene Natur zu kämpfen. Nach spiritistischer Lehre wird also der Mensch nicht in unwiderstehlicher Weise hingeris- sen, sondern kann immer der geheimen Stimme, die ihn im Innersten anreizt, sein Ohr verschließen. Er kann es durch seinen freien Willen, indem er Gott um die nötige Kraft bittet und zu diesem Zwecke den Beistand der guten Geister anruft. Dies lehrt uns Jesus im Vaterunser. Diese Lehre von der veranlassenden Ursache unserer Handlungen geht aus allen Belehrungen durch die Geister hervor. Sie ist nicht nur erhaben in ihrer Sittlichkeit, sondern zeigt dem Menschen auch, daß er nur ein ihn niederdrückendes Joch abzuschütteln braucht, so wie er frei ist, sein Haus ungebe- tenen Gästen zu verschließen. Er ist nicht mehr eine sich auf fremden Antrieb bewegende willenlose Maschine, sondern ein vernünftiges Wesen, das frei anhört, urteilt und sich zwischen zwei Ratschlä- gen entscheidet. Unsere Fehler haben also ihre erste Quelle in der Unvollkommenheit unseres eigenen Geistes, der die ihm zustehende sittliche Höhe noch nicht erreicht hat, der aber deswegen doch seine Willenskraft besitzt. Das leibliche Leben wird ihm gegeben, um sich durch dessen Prüfungen von seinen Unvoll- kommenheiten zu reinigen, denn gerade diese schwächen ihn und machen ihn den Einflüsterungen der anderen unvollkommenen Geister zugänglicher. Geht er als Sieger aus dem Kampfe hervor, so erhöht er sich. Unterliegt er, so bleibt er, was er war und ist weder schlechter noch besser. Die Prüfung beginnt von neuem, und das kann lange so fortgehen. Nach dem Grade seiner Reinigung vermindern sich seine schwachen Seiten, seine sittliche Kraft wächst im Verhältnis seiner Selbsterhöhung und die bösen Geister entfernen sich. Alle inkarnierten Geister bilden das Menschengeschlecht, und da unsere Erde eine der am wenigsten fortgeschrittenen Welten ist, gibt es hier mehr böse als gute Geister. Darum sehen wir hier so viel Verdorbenheit. Raffen wir daher alle unsere Kraft zusammen, daß wir nicht auf sie zurückkehren müssen und es verdienen, uns auf einer besseren Welt ausruhen zu dürfen, auf einer jener bevorzugten Welten, wo ungeteilt das Gute herrscht. Allan Kardec

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